Wirtschaftlichkeit von Industrie 4.0 Anwendungen
Hendrik Unger
Investitionen in Industrie 4.0 steigen. Eine der wesentlichsten Fragen in diesem Kontext, die aber leider sehr selten beantwortet wird, lautet: Wann lohnt sich die Investition in die jeweilige Technologie?
In dieser Ausgabe unserer Nachgelesen-Reihe erfahren sie mehr über:
- die wirtschaftliche Bewertung einer Investition in I4.0,
- die Einschätzung des Wertes von Daten und
- ausgewählte Grundlagen der Investitionsrechnung.
Aktuell wird in den meisten Medien ausschließlich über die neuen Möglichkeiten berichtet, die sich durch Maßnahmen wie digitalen Retrofit, maschinelles Lernen und Prozessdigitalisierung ergeben. Bei aller Begeisterung für das technisch Machbare muss jede Führungskraft auch die Rentabilität im Auge behalten. Dieser Beitrag soll einen Überblick über mögliche Ansätze zur Bewertung von Investitionen in Industrie 4.0 geben. Die Thematik kann wie jede andere Investition, zum Beispiel die Beschaffung von neuen Maschinen, der Anbau einer Fabrikhalle oder das Mieten eines weiteren Gabelstaplers, mit Methoden der Investitionsrechnung bewertet werden. Der wesentliche Unterschied ist die Bewertung der finanziellen Rückflüsse aus dem Vorhaben, da bei einem Digitalisierungsprojekt in den meisten Fällen ein Mehrwert in Daten entsteht. Die sen Mehrwert monetär zu quantifizieren, ist die größte Herausforderung für die Bewertung der Gesamtwirtschaftlichkeit. Somit stellt sich die zentrale Frage:
Was ist der Wert von Daten?
Um es vorweg zu nehmen – eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es leider (noch) nicht. Grundsätzlich lässt sich festhalten: Der Wert von Daten ist abhängig von ihrer Zugänglichkeit, Qualität und dem Unternehmenskontext. Die Zugänglichkeit bezieht sich auf den notwendigen Aufwand, um die Daten automatisiert am Computer verarbeiten zu können.
Faktor Zugänglichkeit
Zweifellos lassen sich zum Beispiel aus allen E-Mails in Ihrem Unternehmen interessante Informationen über Geschäftsprozesse oder Durchlaufzeiten ableiten. Da jeder Nutzer seine E-Mails frei formulieren kann, sind die Daten unstrukturiert und somit schwer zu analysieren. Dementsprechend ist der Wert der Daten gering. Um die Verarbeitung zu vereinfachen, könnten Sie zum Beispiel auf Metadaten der E-Mails zugreifen, die zumindest in einem strukturierten und genormten Format vorliegen. So gibt es einen Absender, einen oder mehrere Empfänger und Sende- und Empfangszeiten. Mit solchen Daten können zum Beispiel die Informationsflüsse im Unternehmen und die Häufigkeit ihrer Nutzung einfach analysiert werden. Durch das festgelegte Format kann die Analyse auch gut automatisiert werden. Somit ist der Wert dieser Daten im Vergleich zum bloßen Inhalt der E-Mails wertvoller. Das gleiche Vorgehen wird übrigens auch bei großen Messangerdiensten genutzt, um den Service zu monetarisieren. So können, auch ohne die Inhalte der Ende-zu-Ende verschlüsselten Nachrichten zu kennen, trotzdem Datensätze generiert werden, die sich verkaufen lassen. Bei E-Mails bleibt der Nachteil, dass es nicht einfach möglich ist, auf alle gesendeten E-Mails im Unternehmen zuzugreifen. Es müsste zum Beispiel der Mailserver entsprechend konfiguriert werden. Den höchsten Wert haben Daten, die strukturiert in einer Form vorliegen, die vom Computer leicht zu verarbeiten ist, etwa als CSV-Dateien oder in einer Datenbank.
Faktor Qualität
Der nächste wesentliche Einflussfaktor ist die Qualität der Daten. Es gibt viele verschiedene Kriterien, um eine Qualitätsbewertung vorzunehmen. Ein paar der Wichtigsten sind (Wang, (1996):
- Korrektheit,
- Aktualität,
- Verständlichkeit,
- Einheitlichkeit,
- Genauigkeit,
- Vollständigkeit,
- Konsistenz (keine Widersprüche),
- Redundanzfreiheit (keine Dopplungen),
- Relevanz und
- Eindeutigkeit.
Je mehr dieser Kriterien erfüllt sind, desto geringer ist der Verarbeitungsaufwand und desto höher der Datenwert.
Faktor Unternehmenskontext
Der Unternehmenskontext spielt für den Wert der Daten eine tragende Rolle (Rüdiger, 2015). Nur, wenn Sie mit den aus Ihren Daten gewonnenen Informationen Ihren Geschäftsprozess verbessern können, haben die Daten für Sie einen Wert. Dort ergeben sich auch mögliche Ansätze zur konkreten monetären Bewertung.
Bleiben wir beim Beispiel der E-Mails aus dem ersten Abschnitt. Wenn Sie den Informationsfluss in Ihrem Unternehmen automatisiert analysieren, erkennen Sie Engpässe. Eventuell lässt sich ein System zur automatischen Weiterleitung von E-Mails aufsetzen: wenn der eigentliche Empfänger einer Nachricht nicht zu erreichen ist. Somit würde die Bearbeitungs-/ Durchlaufzeit verkürzt werden. Je nach Geschäftsmodell entsteht auf diese Weise ein Mehrwert für Ihre Kunden und somit ein Wettbewerbsvorteil. Eine Umsatzveränderung in zwei passenden Vergleichszeiträumen vor und nach der Einführung des Systems bieten hier einen Ansatz zur monetären Bewertung.
Um ein Gepür für den Wert guter Datensätze zu bekommen, haben wir für Sie auf Basis einer Studie von McFarland (2015) Marktpreise für Daten von im Internet gebräuchlichen Zahlungsmethoden zusammengetragen. Ein Hacker, der den vollständigen Datensatz einer Kreditkarte – also PIN und komplette Aufzeichnung des Magnetstreifens – erlangt, kann damit bis zu 190 Dollar erwirtschaften.
Datensatz einer Karte mit hohem Kontostand | Preis pro Datensatz |
Track 1&2: PinATM United States |
$110 |
Track 1&2: PinATM United Kingdom |
$160 |
Track 1&2: PinATM Canada |
$180 |
Track 1&2: PinATM Australia |
$170 |
Track 1&2: PinATM European Union |
$190 |
Der Zugang zu Online-Konten, etwa Paypal, mit hohem Kontostand ist sogar noch lukrativer, wie sich folgender Tabelle entnehmen lässt.
Online-Account mit Kontostand von | Preis pro Account |
$400 – $1,000 | $20 – $50 |
$1,001 – $2,500 | $50 – $120 |
$2,501 – $5,000 | $120 – $200 |
$5,001 – $8,000 | $200 – $300 |
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Der Wert von Daten richtet sich maßgeblich nach seinem Nutzwert. Weitere praktische Berechnungsansätze liefert Laney (Laney, 2018). Diese sollen im Folgenden näher betrachtet werden:
1. Marktpreis der Information (Market Value of Information – MVI)
Der Marktpreis der Information sagt aus, für welchen Wert eine Information auf dem Markt gehandelt werden kann – abhängig davon, wie viele Interessenten bereit wären, für die entsprechenden Informationen zu zahlen.
Ein weiterer Discountfaktor könnte zusätzlich einkalkulieren, wie schnell der Wert „verderblicher“ Informationen sinkt. Konkretes Beispiel: Wir vermuten, die Information drei Mal verkaufen zu können. Jedes Mal sinkt der Wert um 50% (-0.5). Exklusiver Marktpreis = 1000
2. Ökonomischer Informationswert (Economic Value of Information – EVI)
Der ökonomische Informationswert beantwortet die Frage: Wie viel mehr Umsatz kommt bei Vorhandensein der Information tatsächlich zustande und wie verhält sich dieser Wert zu den Kosten des Erwerbs, der Pflege und der Nutzung dieser Informationen?
Zu berücksichtigen ist laut Laney (Laney, 2018), dass die Kosten von Datenerwerb, -verwaltung und -nutzung eventuell auf mehrere Informationsressourcen verteilt werden müssen, beispielsweise weil alle Daten gemeinsam eingekauft wurden oder gemeinsam gespeichert werden. Eine einfachere Berechnung lässt die Kostenfaktoren weg und arbeitet nur mit dem ersten Teil der Formel.
3. Kostenwert der Informationen (Cost Value of Information – CVI)
Hier wird gemessen, wie viel ein Unternehmen aufbringen müsste, um sich entsprechende Daten auf dem Markt zu beschaffen, falls sie nicht vorhanden oder zerstört wären. Dazu kommt der durch das Fehlen der Daten entgangene Umsatz in der betreffenden Periode. Derartige Berechnungen stellen zum Beispiel Firmen und Sicherheitsunternehmen an, wenn Investitionen in Securityoder Backup-Produkte gerechtfertigt werden müssen.
Bewertung von Investitionen
Wie eingangs beschrieben, können für die Bewertung der Wirtschaftlichkeit von Industrie 4.0 Anwendungen klassische Werkzeuge der Investitionsrechnung genutzt werden (Götze, 2014). Diese Methoden benötigen als Eingangsdaten eine Zahlungsreihe, d. h. entweder Geldausgaben oder Rückflüsse in festen Zeitabständen. Für Investitionen betrachten wir normalerweise Jahres- oder Monatsabschnitte. In jedem Zeitabschnitt werden alle Einnahmen und Ausgaben verrechnet, sodass nur noch ein Saldo überbleibt. Die häufigste Zahlungsreihe ist eine große Ausgabe – die Investition und dann monatliche kleinere positive Rückflüsse. Um Zahlungsreihen zu vergleichen, gibt es diverse Kennzahlen, die aus ihnen berechnet werden können. An dieser Stelle wollen wir Ihnen drei einfache Möglichkeiten vorstellen:
Der Kapitalwert
Die Idee hinter dem Kapitalwert ist es, alle Zahlungen der Zahlungsreihe auf den gleichen Zeitpunkt zu bringen. Dazu werden Zahlungsströme, die in der Zukunft liegen, abgezinst. Dahinter steht der Gedanke, dass ein Betrag X, der heute sofort verfügbar ist, mehr wert ist, als der gleiche Betrag in zwölf Monaten. Einen heute verfügbaren Betrag könnte man für die kommenden zwölf Monate gegen Zinsen anlegen und erhielte am Ende der Zeit einen Betrag größer X. Dementsprechend müssen Zahlungen in der Zukunft um den Anlagezinssatz abgezinst werden, um ihren heutigen Wert zu bestimmen. Folgende Formel erreicht genau das:
Der Kapitalwert gibt an, wie sich eine Investition im Verhältnis zum Kalkulationszinssatz verzinst. Beträgt er gleich null, dann verzinst sich eine Investition genau zum Kalkulationszinssatz. Ist er größer beziehungsweise kleiner als null, dann verzinst sich eine Investition unter, respektive über dem Basiszinssatz. Bei relativen Vergleichen ist die Investition mit dem größten Kapitalwert die beste Alternative.
Der Endwert
Im Grunde genommen ist die Idee hinter dem Endwert die Gleiche wie beim Kapitalwert, allerdings wird hier die Zahlungsreihe auf das Ende der Betrachtungsperiode aufgezinst.
Die Formelzeichen haben die gleiche Bedeutung wie beim Kapitalwert. Werden verschiedene Investitionen über ihre Endwerte verglichen, dann ist die Alternative mit dem größten Endwert die Beste. Grundsätzlich ist eine Alternative sinnvoll (absolut vorteilhaft), wenn ihr Endwert größer als Null ist.
Die Annuität
Die Annuität wandelt einen Kapitalwert in einen konstanten Zahlungsstrom um, sie glättet ihn also. Damit lässt sich einfacher erkennen, in welche Richtung sich eine Investition entwickelt.
Auch hier haben die Formelzeichen die gleiche Bedeutung wie in den vorherigen Formeln. Eine Investition ist als absolut vorteilhaft zu beurteilen, wenn sie eine Annuität größer oder gleich null hat. Bei Vergleichen von Alternativen ist eine höhere Annuität besser.
Im vorherigen Kapitel wurde beschrieben, wie erzeugte Daten monetär bewertet werden können. Falls keine der beschriebenen Methoden passt oder es zusätzliche „weiche“ Faktoren gibt, lassen sich diese nicht mit in die Investitionsrechnung aufnehmen. Hier gibt es die Möglichkeit als zusätzliche Methode eine Nutzwertanalyse durchzuführen und beide Ergebnisse dann für die Entscheidungsfindung zu kombinieren. Dieses Vorgehen wird auch bei vielen anderen Entscheidungsproblemen genutzt, bei denen sich nicht alle Aspekte finanziell bewerten lassen.
Zur Durchführung einer Nutzwertanalyse werden zunächst die einzelnen Zielkriterien festgelegt. Diese müssen unabhängig voneinander und ebenso unabhängig von den monetär bewertbaren Kriterien sein, um eine doppelte Einbeziehung eines Zieles zu vermeiden. Zielkriterien können Unterziele haben, das Ergebnis eines Zielkriteriums ist dann die Summe der Unterkriterien. Im nächsten Schritt erfolgt eine Gewichtung der Zielkriterien. Sie legt die Relation der Ziele untereinander fest. Dabei muss die Summe der Gewichte einer Hierarchieebene jeweils 100% ergeben. Nach der Gewichtung ist es erforderlich, die eigentlichen Zielwerte zu ermitteln. Um Objektivität zu wahren, bietet es sich an, vor der Bewertung die möglichen Werte und Bewertungen für ein Zielkriterium festzulegen.
Sind alle Werte bestimmt, wird das Gewicht jedes Kriteriums mit seiner Wertung multipliziert und die Summe in der jeweiligen Hierarchieebene gebildet. Diese Summe ist dann eine Eingangswertung für die nächsthöhere Ebene. Dieses Vorgehen wird wiederholt bis am Ende eine Gesamtwertung für das Zielsystem festgelegt ist. Anhand der Gesamtwertung können verschiedene Alternativen nach ihrem Nutzwert verglichen werden.
Um die Ergebnisse beider Analysen zusammenzuführen, können Sie ein zweidimensionales Diagramm wie in Abbildung 1 nutzen.
Oft gibt es keine eindeutig beste Lösung. Dann sollten alle Alternativen gestrichen werden, die gleichzeitig einen geringeren Nutzwert und einen geringeren Kapitalwert haben als eine andere Alternative. Für die verbliebenen Lösungen wird der Nutzwert durch den Kapitalwert geteilt. So kann beurteilt werden, wieviel Nutzen man für das eingesetzte Geld bekommt. Dabei sollte die endgültige Entscheidung allerdings nicht nur von dieser Kennzahl abhängig gemacht werden. Oft wird die Entscheidung zwischen einer Lösung mit einem guten Nutzwert und gewissen Kosten sowie einer besseren Lösung mit größeren Kosten fallen. Je nach Situation ist dann zu beurteilen, ob die Mehrkosten den Zusatznutzen rechtfertigen.

Anmerkungen
Quellen und weiterführende Literatur
- Bender, B. (2019). Künstliche Intelligenz in ERP-Systemen – Herausforderungen und Chancen. In Gronau, N. (Hrsg.), Die Rolle von ERP-Systemen im Zeitalter der Digitalisierung – ERP Kongress 2019 (S.14-45). Berlin: Gito mbH Verlag
- Gronau, N. (2019). Integration von künstlicher Intelligenz in der Fabriksteuerung. Abgerufen von: https://productivity-management.de/node/1062 [04.12.2019]
- VDMA (2019). Leitfaden Selbstlernende Produktionsprozesse – Einführungsstrategie Reinforcement Learning in der industriellen Praxis. Abgerufen von: https://industrie40.vdma.org/documents/4214230/40887780/Leitfaden_I40_InPuls_LR_1568024310140.pdf/176e85cb-3628-7e7f-d8ec-ba5cd413a5b6 [23.03.2020]
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Autor
Hendrik Unger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Fabrikplanung und Fabrikbetrieb der Technischen Universität Chemnitz. Im Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Chemnitz beschäftigt er sich mit den Themen IoT & Automatisierungstechnik, Robotik sowie mobile Endgeräte.
hendrik.unger@betrieb-machen.de
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